Der Bio-Boom der ersten beiden Corona-Jahre ist zumindest im Bio-Fachhandel wieder vorbei: Der Umsatz ging im vergangenen Jahr um 12,3 Prozent auf 3,14 Milliarden Euro zurück und liegt damit unter dem Niveau von 2019. Welche Wege aus der „Depression“ führen könnten, wollte eine Podiumsdiskussion auf der vergangenen Sonntag in Leipzig stattgefundenen Fachmesse BioOst klären. Während die Strahlkräfte der Anbauverbände schwinden, solle man vor allem ehrlich zugeben: Der Bio-Fachhandel mache nicht immer alles besser. Diesbezüglich wurden Dennree und Alnatura offen kritisiert.
„Wir dürfen uns nichts vormachen und die Welt schön reden. Die Vergangenheit trägt uns nicht in die Zukunft“, stellte Malte Reupert, Geschäftsführer Biomare, klar. Natürlich gäbe es in der Bio-Branche viele Akteure mit gelebten hohen sozialen Werten. Er selbst hat die starke Solidarität erst kürzlich erfahren, als er mit seiner kleinen Bio-Marktkette – zu der heute drei Standorte in Leipzig zählen – im vergangenen September die Insolvenz in Eigenverwaltung im sogenannten Schutzschirmverfahren beantragen musste. Alle Lieferanten hätten ihn weiter versorgt und damit vollstes Vertrauen bewiesen. Ab Mai soll das Insolvenzverfahren abgeschlossen sein. Auf diese Botschaft folgte Applaus aus dem Publikum.
Dennree und Alnatura nicht immer auf der Seite der Guten?!
Die vielen guten Beziehungen, die Akteure der Bio-Branche untereinander pflegen, seien aber nur die halbe Wahrheit. Von mehreren Bio-Herstellern und Vertretern landwirtschaftlicher Bio-Betriebe höre Reupert immer wieder, dass der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel viel partnerschaftlicher, fairer und mehr auf Augenhöhe mit seinen Lieferanten umgehen würde, als dies Teile des Bio-Fachhandels tun. „Das ist doch die Realität, der wir uns stellen müssen“, machte Reupert klar, der während der gesamten Diskussion mit offenen Worten und konstruktiver Kritik besonders auffiel.
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„Wir haben in unserer Branche zwei Milliardenkonzerne (wenn auch nicht namentlich ausgesprochen sind Dennree und Alnatura gemeint – Anmerkung Jens Brehl), deren Geschäftsgebahren sich in wesentlichen Punkten nicht mehr von denen herkömmlicher Industrie und Handel unterscheiden.“ Reupert kritisierte insbesondere aggressive Preisstrategien, die den Markt drücken. Die eigenen Handelsmarken seien so kalkuliert, dass die Unternehmen nur durch die höheren Aufschläge bei den Artikeln von Markenherstellern überleben könnten, weil eben diese die billigen Preise quersubventionieren würden. Zudem monierte Reupert Sortimente, die nicht mehr nach Gesundheits- und Ernährungsfragen, sondern nach dem größten Umsatz ausgerichtet sind. „Das sind alles Dinge, mit denen wir uns auseinandersetzen müssten. Das Problem ist aber, die Großen haben solch eine Marktmacht, dass so etwas öffentlich zu thematisieren auch gefährlich ist. Ich habe dort keine Handelspartner, deswegen kann ich hier die große Klappe haben. Die kann sich jemand aber nicht leisten, der die Hälfte seines Umsatzes dort erwirtschaftet.“
Tatsächlich bekommt auch „über bio“ bei Recherchen immer wieder hinter vorgehaltener Hand Kritik am Einkaufsverhalten von Dennree und Alnatura zu hören, wenn wieder „die Daumenschrauben angezogen“ werden, für Marketingaktionen zur Kasse gebeten wird oder als besonders hoch empfundene Rückvergütungen verlangt werden. Diese fordert der Handel beispielsweise ein, wenn sich Artikel besser als geplant verkauft haben. Zwar verdient dann auch der Händler die ganze Zeit mit, möchte aber mitunter auch noch einen gesonderten Anteil am Umsatz des Herstellers erhalten. „Mir ist jetzt schon schlecht“, sagte beispielsweise eine bei einem Bio-Verarbeiter verantwortliche Person, als diese an den bevorstehenden Termin mit den Einkäufern von Alnatura dachte. Oftmals würden sich die Gespräche mit dem Bio-Fachhandel generell nicht von denen mit Vertretern des konventionellen Lebensmitteleinzelhandels und der Discounter unterscheiden.
Offen und vor Publikum ausgesprochen hört man dies eher selten. „Ich möchte dafür werben, dass wir uns vermehrt mit den kritischen Dingen beschäftigen“, erklärte Reupert seine Motivation in der Gesprächsrunde. So lange es keine klaren und überprüfbaren Regeln für faires wirtschaftliches Verhalten gibt, könne jeder von sich behaupten zu den Besseren zu gehören. Daher zahle diese Aussage nicht auf das Alleinstellungsmerkmal des Bio-Fachhandels ein, im Gegenteil mache man sich unglaubwürdig. „Im Geschwurbel sind wir Ökos Weltmeister.“
Anbauverbände für den Bio-Fachhandel immer unwichtiger
Laut Reupert habe man zudem schlichtweg verschlafen, dass trotz Umsatzzuwächsen kontinuierlich Marktanteile verloren gingen. Nur wenige Bio-Händler hätten sich gefragt, welche wichtige gesellschaftliche Rolle sie noch spielen. Einst hatte der Bio-Fachhandel beispielsweise die Anbauverbände bekannt und groß gemacht, was schon lange nicht mehr deren Aufgabe sei; spätestens, seitdem beispielsweise Bioland mit Lidl und Naturland mit Aldi Süd kooperieren. Das ebenso wie Lidl zur Schwarz-Gruppe gehörende Kaufland ist gar Mitglied im Anbauverband Demeter.
„Die engen Partnerschaften mit den Anbauverbänden sind vorbei.“ Konsequent weist Reupert in seinen Läden bei Obst, Gemüse und in den Käse- und Fleischtheken die Anbauverbände gar nicht mehr aus. „Der konventionelle Handel nutzt die verschiedenen Anbauverbände, um sich bei den Bio-Produkten von der Konkurrenz abzuheben. Jeder hat seinen Favorit, wie Rewe beispielsweise Naturland. Im Bio-Fachhandel sind die Markenzeichen nicht so wichtig“, sagte Peer Schwarke, Leiter Vertrieb und Marketing der Bohlsener Mühle, kürzlich in einem Gespräch auf der diesjährigen Biofach.
Karin Romeder von Naturland Zeichen betonte, dass Produkte mit dem Naturland Fair-Zeichen – welches ökologische Landwirtschaft und fairen Handel verbindet – ausschließlich dem Bio-Fachhandel vorbehalten ist. Thomas Hölscher, Geschäftsführer Naturkost Erfurt, dankte zwar höflich für das Angebot, unterstrich jedoch, dass die konkrete Zusammenarbeit und gemeinsame Projekte mit Erzeugerbetrieben und Verarbeitern wichtiger seien. „Ob das Verbandssiegel am Ende entscheidend ist, wage ich zu bezweifeln.“
Kann der Bio-Fachhandel mit einer Stimme sprechen?
„Mein Herz schlägt für den Bio-Fachhandel, er ist die Speerspitze der Branche. Der Öko-Anbau ist hier Teil der DNA“, machte Romeder klar. Doch dieser müsse endlich lernen, nicht nur ökologische Werte in den Vordergrund zu stellen, sondern auch mit Augenmaß günstige Preise zu thematisieren. Man müsse weg vom „Apotheken-Image“, denn wie Romeder bei einem eigenen Vergleich bei allen Handelsstufen festgestellte, waren die Bio-Äpfel im Bio-Fachhandel am günstigsten.
Als junges Unternehmen mit Nischenprodukten sei es deutlich einfacher im Bio-Fachhandel gelistet zu werden, wie Marisa Endrejat, Gründerin und Geschäftsführerin von Elb-Ferment, berichtete. Ihr Unternehmen produziert fermentierte Bio-Lebensmittel wie Kimchi, Kefir und Kombucha in Dresden. Dennoch müsse man Bio dorthin bringen, wo sich die Menschen aufhalten. „Wir sind auf den konventionellen Lebensmitteleinzelhandel angewiesen, nur mit dem Bio-Fachhandel können wir nicht überleben.“ Dennoch wünscht sich die Unternehmerin, dass der stark fragmentierte Bio-Fachhandel verstärkt mit einer Stimme spricht.
Reupert erinnerte in diesem Zusammenhang an die vom Bundesverband Naturkost Naturwaren Ende 2019 initiierte Kampagne „Öko statt Ego“, in die „neben Ideen auch viel Geld eingeflossen ist“, und die er als erfrischend für die oftmals „verstaubte Branche“ wahrnimmt. Solche Aktionen lebten vom Mitmachen, doch etliche Inhaberinnen und Inhaber von Bio-Läden hätten sich nicht beteiligt. „Es ist ein Problem der Bio-Branche, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht.“
Sehr spannende Einblicke, Jens! Und toll, dass so auch mal wieder kleine Händler*innen und Hersteller*innen zu Wort kommen. Bin gespannt, ob die Konzerne die Kritik konstruktiv aufgreifen.